Wingolfspauke – Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrte Damen und Herren Gäste, sehr geehrte Damen Farbenschwestern und Herren Farbenbrüder, liebe Alte Herren und Philister, liebe Brüder,
„Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ So lässt Goethe den Allmächtigen im Prolog zum ersten Teil des Faust über uns Menschen sprechen. Und sicherlich liegt er damit nicht falsch. Laufen wir Menschen – und nicht nur junge – doch all zu vielen Dingen hinterher. Waren es zu anderen Zeiten Philosophien aus den schließlich Ideologien wurde, so ist es heute kurzlebiges Vergnügen, Ablenkungssucht und der übersteigerte Zwang sich „selbst verwirklichen“ zu müssen von denen Menschen sich treiben lassen. Zwischen Lifestyle, Konsumrausch und schönem Schein mäandern viele durch ein Leben, dass weder seinen Grund noch seinen Zweck kennt.
Nur wer weiß, wo seine Aufgaben liegen, kann seine Arbeit gut machen. Nur wer weiß, wonach er strebt, kann sein Irren überhaupt erkennen.
Das gilt für jeden persönlich, aber auch für uns als Wingolf. Als Gemeinschaft haben wir uns einem Ideal verpflichtet, das auf unseren Prinzipien ruht. Ich möchte versuchen, uns mit dieser Pauke eine kleine Orientierung in diesen Dingen im Hinblick auf das kommende Semester und unser Leben zu geben: Von dem, was wir im Wingolf tun wollen und wie wir es tun sollen.
Wir im Wingolf sind Akademiker. Das liegt nicht nur pragmatisch auf der Hand, weil wir eben schon qua nomen eine „Studenten“-Verbindung – keine Burschenschaft – sind und außerdem ja ein Vollzeit arbeitender Mensch in unserem Alter gar keine Zeit für so ein Gemeinschaftsleben hätte. Nein, Akademiker sein bedeutet mehr als an einer Hochschule immatrikuliert sein, Alumnus einer solchen zu sein oder das Führen eines akademischen Grades. Es ist eine Lebenshaltung. Es bedeutet das Leben als einen fortwährenden Bildungsprozess im umfassenden Sinne zu verstehen. Dass die Neugier und Lernbereitschaft niemals einen Abschluss finden. Konkret heißt das, dass wir uns im Wingolf mit unseren verschiedenen Studiengängen und Lebenswegen interessiert und aufgeschlossen begegnen. Akademiker sein bedeutet andererseits auch nicht aufzuhören, alles kritisch zu beleuchten und zu hinterfragen, vor allem sich selbst. Der wahre Akademiker weiß darum, dass Wahrheit eine in höchstem Maße subjektive Sache und Objektivität nicht einmal ein gutes Ideal ist. Daher ist er in seinen Grundsätzen zwar standfest, in der Diskussion und im Streit aber doch liberal.
Ein akademisches Prinzip zu haben, bedeutet für uns auch, dass wir dem Studium Vorrang geben, uns nach Kräften gegenseitig unterstützen und um den Studienfortschritt bemühen. In diesen Dingen pflegen wir eben keinen „Corpsgeist“. Ein Studentenleben nach dem Motto „zwar keinen Abschluss, aber doch Student gewesen“ kann kein wingolfitisches sein. Ein weiteres, nicht unwichtiges Erkennungsmerkmal eines Akademikers lässt sich mit dem schillernden Begriff „Stil“ fassen: wir pflegen einen akademischen Umgang miteinander. Das meint zurückhaltendes Benehmen und angemessene Sprache, aber auch ein gepflegtes Äußeres und Kenntnisse in Kleidungs- und Umgangsformen. Das sind nicht nur Äußerlichkeiten oder Standesdünkel – auch diese Dinge zeugen von einer inneren Haltung des Respekts im gesellschaftlichen Umgang. Als aktive Verbindung sind wir verpflichtet, uns untereinander in solchen Fragen zu unterrichten und zu kontrollieren, insbesondere die Füxe. Vom Akademischen herkommend ist der Wingolf eben auch Erziehungsgemeinschaft.
Wir im Wingolf sind Christengemeinde. Es reicht uns nicht aus ,zu vermuten, daß „es da eine höhere Macht gibt“. Wir können weder Atheisten, Nihilisten oder im anderen Extrem gar Esoteriker sein. Der Fall liegt ganz klar: wir bekennen uns zu Jesus Christus als dem Herrn unseres Lebens. So wie ihn das Wort Gottes bezeugt, als Sohn des Vaters, der doch eins mit ihm ist. Da darf es unter uns keine Zweifel und Nachsichtigkeiten geben. Hier wäre Liberalismus fehl am Platz. Die Gretchenfrage muss dem Wingolf eine Grundsatzfrage sein und kein Smalltalk-Thema im Salonkreis. Unsere Gründerväter waren sich dessen wahrscheinlich mehr bewusst als wir heute. Unsere Ernsten Feiern sind ein wichtiges Erkennungsmerkmal unseres Bundes, jeder Wingolfit muss vor seiner Burschung eine solche gehalten haben. Und das heißt nicht weniger als das jeder Wingolfit in der Lage sein muss, das Wort Gottes zu predigen. Das ist eine hohe Aufgabe, der wir uns alle stellen können müssen. Es ist aber auch eine große Ehre und ein herrliches Amt, was uns dadurch zuwächst. Aber in den Ernsten Feiern allein darf sich unser Christianum nicht erschöpfen. Wir sollen im Wingolf miteinander und voreinander über unseren Glauben sprechen, uns in ihm stärken, miteinander und füreinander beten und eben mit und vom Wort Gottes leben. Dabei müssen wir erkennen lernen, dass wir nicht unser eigener Maßstab sein können und daher das Christ sein nicht allein auf das Ethische beschränken dürfen. Um soziale Projekte anzustoßen oder zueinander fair und freundlich zu sein, reicht auch ein humanistischer Geist. Das tut auch der Rotary Club, dazu brauchen wir keinen Wingolf. Unter uns soll der Glaube lebendig sein, in Gedanken, Worten und Werken – im Gebet, in der Verkündigung und in der brüderlichen Liebe untereinander. Das soll uns Ansporn und Aufgabe der inneren Mission zugleich sein.
Wir im Wingolf leben korporative Tradition. Wir leben sie in mannigfaltigen Formen – in unserer Sprache, in den Formen unserer Geselligkeit, in unseren Liedern, in unserer ganzen Existenz als Verbindung. Wir stellen uns damit in eine Reihe von ungezählten anderen, die das auf unserer Art und Weise in Leipzig schon seit bald 160 Jahren getan haben. Darunter waren große Persönlichkeiten – bekannte und unbekannte -, die unserem Land, dieser Stadt, der Wissenschaft, den Kirchen, aber eben auch dem Leipziger Wingolf große Dienste erwiesen haben. All das macht zu Recht stolz. Wir pflegen mit unserer Tradition – die eine spezifische deutsche Tradition ist – auch eine Kultur. Es ist eine deutsche Kultur der Freiheit und der Selbstbestimmung, der geistigen wie der leiblichen. Am sinnenfälligsten wird das im Vollwichs, in dem ich als Chargierter jetzt gerade vor Euch stehe und den Kneipjacken, die man an der Kneiptafel sitzen sieht. Sie erinnern noch heute in ihrer Form und Gestaltung an die Uniformen der polnischen Freiheitskämpfer, die sich in einer nationalen Erhebung in den 1830er-Jahren gegen die unterdrückerische Fremdherrschaft des zaristischen Russlands gewandt haben. Wir knüpfen an den Geist des Wartburgfestes von 1817, das von einem geeinten Deutschland in Freiheit und Recht träumte. Und wir praktizieren schließlich den demokratischen Gedanken in Reinform in unserer basisdemokratischen Verfasstheit.
Unsere korporative Tradition bestimmt auch unser gemeinsames Feiern, wie wir es ja gerade auch jetzt und auch sonst oft und gerne tun. Für uns muss Feiern heißen achtsam miteinander zu feiern und nicht in der Gruppe doch nur sich selbst zu feiern. Denn das ist die moderne Feierkultur – sich selbst zu zelebrieren und die deprimierende Einsamkeit, die dabei spürbar wird, mit Alkohol oder anderen Stimula zu verdrängen. Unser gemeinsames Feiern soll ein ausgelassenes, aber dennoch rücksichtsvolles Miteinander sein. Dazu gehört auch, das jeder in Rücksicht auf sich selbst und auf die für ihn Verantwortlichen weiß, was und wie viel davon ihm und den anderen gut tut. Schauen wir mal, wie gut das heute Abend läuft…Genauso wichtig ist es, daß keiner den anderen im Feiern in einen Gruppenzwang setzt. Das ist nicht nur unfein, sondern auch unchristlich. Mit anderen Worten: wingolfitisches Feiern heißt Feiern in Mäßigkeit, was nicht gleichbedeutend mit nur mäßigem Feiern ist.
Zu guter Letzt leben wir im Wingolf im Lebensbund. Das heißt einerseits, daß wir uns dieser „Halle der Freunde“ und der Unterstützung ihres aktiven Betriebes auf Lebenszeit verpflichten. An unseren lieben Philistern hier können wir es sehen: Ein Wingolfit lebt bis zum Ende in Semestern. Aber es bedeutet andererseits noch viel mehr, daß wir uns verpflichten, diese Halle auch mit Freundschaft zu füllen. Gewissermaßen ist der Wingolf nichts anderes als eine große Familie – mit vielen kann man gut, mit manchen sehr gut und mit anderen kann man sein Leben lang nichts anfangen. Dennoch bleibt Familie aber eben Familie. Man hat sich die Brüder nicht ausgesucht, dennoch liebt man sie. Wer in den Wingolf kommt, verpflichtet sich zu brüderlicher Liebe und damit zu einem grundsätzlich freundschaftlichen Verhältnis und daraus folgend Verhalten zu seinen Bundesbrüdern. Manche Bundesbrüder werden im Laufe der Zeit zu unverzichtbar guten Freunden, was wir in unserer korporativen Tradition dann mit einem Zipfeltausch sichtbar werden lassen. Klar ist, dass wir nicht alle unsere Bundesbrüder mit einem Zipfel versehen wollen oder mit ihnen in ein Leibverhältnis eintreten würden. Aber Brüder sind sie eben dennoch.
Das sind sie – die Verhältnisse und Idealvorstellungen ,nach denen wir im Wingolf in der Gestaltung unseres gemeinsamen Lebens im Semester und darüber hinaus streben sollen. Es ist natürlich eine Eigenheit von Idealen, dass sie niemals vollständig erreicht werden. So wird es auch uns im vor uns liegenden Semester gehen. Dennoch werden wir nicht scheitern, wenn wir uns um diese Ideale bemühen. Hier möchte ich wieder Goethe zu Wort kommen lassen. Er lässt gegen Ende von Faust II die Engel, die das Unsterbliche Fausts in den Himmel bringen, sagen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Das Wichtigste ist also nicht, daß wir die Ideale erfüllen, sondern daß sie uns vor Augen stehen und wir unsere Arbeit nach ihnen ausrichten.
Nicht vergessen will ich dabei auch unsere schönen Damen, die uns auch in diesem Semester wieder den Freiraum geben, uns hier im Wingolf auszuleben. Ohne ihre Liebe und Fürsorge uns gegenüber wäre es doch – manchmal – schlecht um uns bestellt. So bringt uns neben unserem Fleiß und unseren Idealen auch ihre Schönheit und Anmut, einfach ihre Liebe voran. Hierzu möchte ich noch einmal Goethe in seinem Chorus mysticus am Ende von Faust II zu Wort kommen lassen:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis!
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Erreichnis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein strebsames und reiches Wintersemester.
Dem Leipziger Wingolf und dem gesamten Wingolfsbund ein Vivat, Crescat, Floreat in aeternum!